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Großmutter – „Kukum“ und „Montreal. Tiohtiá:ke“

von Michel Jean

Diese Lebensgeschichte aus dem Norden Kanadas trifft ins Herz. Die Großmutter wird 97 Jahre alt. Ihr Urenkel Michel Jean ist Journalist und Buchautor in Québec. Er sucht nach seiner eigenen Identität, nach der Geschichte der Innu, der Geschichte seines Stammes. In seinem Roman „Kukum“ (Wieser Verlag 2021) lässt er Almanda, seine Urgroßmutter, erzählen. Es wir eine Lebensgeschichte über das Land und die ursprüngliche Lebensweise der Innu. Doch dann kommt die Moderne mit der Eisenbahn, den Holzhackern und Flößern. Die Wälder werden geschlagen für die Papierfabriken Das Land wird durch Staudämme für Kraftwerke geflutet. Die Lebensgrundlage der Normadenvölker, die Jagd und der Pelzhandel, gibt es nicht mehr. Die Innu werden zur Sesshaftigkeit gezwungen, in Reservate gesteckt, die Kinder werden in Internate entführt:

Meine Kinder wurden im Wald geboren. Meine Enkelkinder sind in einem Reservat groß geworden. Erstere haben ihre Erziehung auf dem Territorium erhalten, letztere im Internat. Als sie zurückkamen, drückten sie sich auf Französisch aus. Die weißen Patres verboten ihnen, Innuaimun zu sprechen, und bestraften diejenigen, die es dennoch taten. … Sie dachten, wenn sie ihnen ihre Sprache nähmen, würden sie Weiße aus ihnen machen. … Zu ersten Mal in unserer Geschichte wandten die jungen Innu sich nicht mehr an die Älteren, um zu lernen. Schlimmer sie misstrauten ihnen, denn ihre Lehrer hatten ihnen immer wieder gesagt, ihre des Lesens unkundige Eltern seien ungebildete, zurückgebliebene Wilde. Am Ende glaubten sie ihnen“ (S.174).

Almanda ist Weise, sie kommt mit einem Auswandererschiff aus Irland nach Kanada, lebt bei einer Tante und einen Onkel. Mit fünfzehn Jahren verliebt sie sich sofort in einen jungen Innu, in Thomas Siméon. Sie heiraten und sie folgt ihm und seinem Familienclan im Kanu über die Seen und Flüsse in die hochgelegenen Jagdgebiete. Sie lernt Jagen, Gerben, alle Fertigkeiten und Gebräuche, das Leben der Normaden und die Sprache Ihrer Familie. Zusammen bekommen sie acht Kinder.

Sie erlebt, wie die Masse der gefällten Bäume auf den Seen und Flüssen die Passage in ihre Jagdgebiete unmöglich macht. Die Wälder waren verkauft, die Bäume wurden geschlagen, das Wild und sie selbst hatten kein Land mehr. Welchen Sinn hat jetzt das Leben? Gewalt, Alkohol, Drogen, Selbstmorde gehören von nun an dazu.

Almanda: „… wenn man erst einmal Wut und vielleicht auch Trauer empfunden hat, vergessen wir das nie mehr. Wir lernen damit zu leben. Vielleicht macht uns das jetzt zu Innu. Leider. Am See Zuflucht zu suchen wie heute Morgen, besänftigt mich, denn es erinnert mich daran, wer wir waren und immer noch sind. … Solange all das in meinen Herzen existiert, ist es noch lebendig“ (S. 198).

In kleinen Kapiteln, in kurzen Sätzen, manchmal nur in Worten schreibt Michel Jean diese Geschichte auf, man hört seine „Kukum“ sprechen. Diese Geschichte trifft auch unser Herz.

Den „Indianer im Kind zu töten“, versuchten Mönche und Nonnen in Internatsschulen von Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1996. Rund 150.000 Kindern wurde ihre Sprachen und Kulturen verboten. Sie erlebten Gewalt und teils sexuellen Missbrauch. 2021 und 2022 wurden gut 1.000 Überreste von Kinderleichen in Massengräber unweit der kirchlichen Umerziehungsinternate gefunden.

Das wirkt fort bis in die dritte Generation. In „Montreal. Tiohtiá:ke“ (Wieser Verlag 2023), wie diese kanadische Millionenstadt in der Sprache der Mohowk benannt wird, leben Obdachlose, oft Entwurzelte unterschiedlichen indigener Nationen. So auch Élie Mestenapeo, ein junger Innu. Er war zehn Jahre in Gefangenschaft, weil er seinen alkoholkranken Vater umgebracht haben soll. Nun ist er frei, aber laut Kodex seiner eigenen Gemeinde bleibt er verbannt.

Michel Jean gibt genau, ohne viele Worte, in kurzen Kapiteln, Einblick in einige Geschichten der Menschen, die auf der Straße leben. Das Land und die Lebensweisen ihrer Ahnen wurde zerstört. Sesshaft sollten sie werden, die Kinder wurden umerzogen. Élie Mestenapeo studiert schließlich Jura, ein Anwalt der Entwurzelten will er werden. Es stellt sich heraus, dass nicht er seinen Vater umgebracht hat, sondern seine Mutter hatte es getan.

Ein Freund Èlies arbeitet jetzt als Sozialarbeiter. Er bietet Selbstbesinnungscamps an, zehn Tage in den alten Territorien der Vorfahren, zehn Tage ohne Alkohol und Drogen. Es eine Art Rückbesinnung auf Mutter Erde, auf traditionelle Lebensweisen. Élie sagt: „Das Leben war einfacher. Es gab den Wald, die Jagd, die Familie. … Als wir diese Woche im Wald waren war nichts kompliziert. Wir taten, was wir zu tun hatten. Jagen, Fallen stellen, angeln. Wir fühlten uns wohl“.

Sein Freund entgegnet ihm : „Du denkst, dass das Leben für die Alten einfach war? Es gab Perioden, in denen das Wild sich rar machte, und sogar Hungersnöte. Das Leben war prikär. Kannst du dir vorstellen, wie du dich fühlst, wenn du Kinder hast und keine Nahrung für sie findest? Es gab keine Lebensmittelgeschäfte, keine Spätverkaufläden. Ich weiß, dass es einem von außen betrachtet wie ein friedliches Leben vorkommt. In Wirklichkeit aber musste man ständig auf der Hut sein und sich vorausschauend verhalten. Es gab auch Gebietsstreitigkeiten mit anderen Nationen.Die Innu und die Inuit haben sich oft gestritten. Das war überall so. … Es war ein Leben, in dem man seinen Platz kennen und verteidigen musste. Und ich werde dir was sagen, mein Freund, das ist heute immer noch so. Geändert hat sich nur die Welt. Aber die Menschen bleiben die Gleichen“ (S. 119f).

Abends am Feuer kamen die Geschichten, Erinnerungen, das Bedürfnis zu reden, die Trauer. Michel Jean neuste auf Deutsch übersetzte Geschichte ist ein weiterer Versuch der Aufarbeitung der meist nicht erzählten Geschichte Kanadas. Es ist auch ein Versuch des Autors, sich selbst zu identifizieren. Eine Rückbesinnung auf die traditionellen Lebensweisen, in der Hoffnung auf Heilung, auf Mut und Zukunft.

Andreas Schönefeld, 27.11.2023

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